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Gib mir noch Zeit

In meiner Kategorie “True Stories” findest du Geschichten, die mir oder mir persönlich bekannten Personen wirklich so passiert sind. Namen, Orte und Daten können von der Realität abweichen.

„Ich kann es gar nicht glauben!“, sagte Beate zu ihrer besten Freundin Mel. „Endlich hat dieses Hin und Hergescheuche ein Ende!“, sie nippte an ihrem Latte Macciato und lächelte glücklich.

„Du warst ja nicht mal zwei Monate am gleichen Ort!“ meinte Mel und pustete sich verächtlich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Die hätten längst erkennen müssen, wie gut du bist – und wie dir die alten Menschen am Herzen liegen. Ganz ehrlich? Ich könnte das nicht! Dieser Job ist echt hart. Die ganze Scheiße wegmachen. Der Schichtdienst. Keine Wochenenden, keine Feiertage. Die Hektik. Das Waschen. Und das noch mit Kleinkind! Und dann sterben die Menschen ja auch. Dass du das kannst!“

Seit zwei Jahren war Beate nun Altenpflegerin – ihre Berufung, das wusste sie ganz sicher. Nachdem sie nicht gleich eine Festanstellung fand, arbeitete sie bei Zeitarbeitsfirmen.

„Ich liebe meinen Job. Das wird immer so bleiben. Es ist eine Herzensangelegenheit. Aber diese Wechsel haben mich echt fertig gemacht! Ich bin so froh, dass ich jetzt eine feste Stelle habe! Und dann noch gleich um die Ecke! Und 13€ die Stunde zahlen sie, man ich freue mich so! Aber das Beste ist, dass die Chefin total verständnisvoll reagiert hat wegen Maja. Ich habe die Kleine ja kaum noch gesehen! Sie war mehr beim Babysitter als bei mir! Jetzt mache ich nur noch Frühdienste und habe viel Zeit für sie.“

Am nächsten Morgen kam Beate pünktlich um 5.30 Uhr auf der Arbeit an. Sie hatte zwar schon zwei Wochen im Seniorenpark Angermünd gearbeitet, doch sie war aufgeregt, als wäre es der erste Tag.

„Guten Morgen!“, begrüßte sie fröhlich ihre Kollegin Gabi, mit der sie die Frühschicht teilte. „Wer kommt noch?“

„Keiner heute! Du bist jetzt die zweite Fachkraft. Wir sind nur zu zweit.“, entgegnete Gabi. „Das wird wieder ätzend!“

„Ach, wir schaffen das schon.“, versuchte Beate die schlechte Stimmung im Kern zu ersticken. Immer meckerten die so viel.

„Du hast gut reden. Bist noch grün hinter den Ohren. Kein Wunder, du bist ja immer nur bei uns mitgelaufen. Aber ab heute hast du die alleinige Verantwortung. Für die linke Seite. Ich nehme die Alten rechts, die sind anstrengender. Wenn ich nur an die Mühlhäuser denke! Auf die habe ich null Bock! Nur am Jammern ist die! Alles macht man falsch!“

„Die ist doch voll lieb!“, sagte Beate. „Sie möchte sich wahrscheinlich nur unterhalten. Hat ja keinen mehr.“ Es schockierte sie, wie Gabi über die alten Menschen sprach. So abfällig. Doch sie wollte sich nicht sofort unbeliebt machen und lächelte ihrer Kollegin zu.

Die verdrehte genervt die Augen und sagte besserwisserisch: „Noch redest du so. Ich gebe dir zwei Wochen, dann wirst du mich verstehen. Wir haben keine Zeit, uns zu unterhalten. So ist das hier. Hoffentlich bleibt der Drache heute, wo der Pfeffer wächst!“

„Der Drache“, das war ihre Chefin, Frau Wenigern. Beate hatte sie nur ein paar Mal gesehen. Das einzige Mal, dass sie richtig mit ihr gesprochen hatte, war beim Einstellungsgespräch letzte Woche gewesen. Doch natürlich war ihr nicht entgangen, was ihre Kolleginnen von der Frau hielten. Sie sei knallhart, scheuche alle nur herum und habe null Verständnis, dass man auch ein Privatleben hatte. Weinende Mitarbeiter nach einem Gespräch in der Chefetage waren fast an der Tagesordnung.

„Ich werde einfach versuchen, mit ihr auszukommen.“, dachte Beate bei sich. „So, wie die hier alle rummeckern, kann ich sogar ein bisschen verstehen, dass die Wenigern so drauf ist.“

Ihr blieb keine Zeit, den Kaffee auszutrinken. Um 7.30 Uhr gab es Frühstück, da mussten alle 18 Bewohner am Tisch sitzen. Sie hatte schon öfters darüber nachgedacht, warum so früh gegessen wurde. Die alten Menschen saßen danach bis mittags nur herum und es hätte viel Hektik herausgenommen, wenn das Frühstück später stattfände. Sie hatte auch einmal gefragt und ihr wurde erklärt, dass nur so genug Zeit für anfallende Arbeiten bliebe. Nach dem Frühstück musste dokumentiert werden. Das dauerte ewig. Und die Küche räumte sich auch nicht von selber auf. Wäsche falten, Arztgänge, Erledigungen…es gab immer viel zu tun.

Motiviert begann sie mit der Pflege von Herrn Schmidt. Der Mann war 89. Er war Soldat gewesen und hatte den zweiten Weltkrieg miterlebt. Während seine Frau damals zu Hause schwanger mit dem zweiten Kind auf ihn wartete, war er in russische Gefangenschaft geraten. Das erzählte er gerne. Seine Frau war mit 70 gestorben und seine zwei Kinder kamen ihn gelegentlich besuchen. Körperlich war er recht fit für sein Alter, aber langsam wurde er sehr zerstreut.

„Guten Morgen, schönes Kind! Sie habe ich doch schonmal gesehen!“, sagte er fröhlich.

„Guten Morgen, Herr Schmidt. Haben Sie gut geschlafen?“, antwortete Beate herzlich. „Nun hole ich Sie mal aus dem Bett raus!“

„Na Sie gefallen mir! Damit ich wieder den ganzen Morgen gelangweilt in der Ecke sitzen kann! Und auf diesen Fraß kann ich verzichten!“ Der alte Herr klang unvermindert gut gelaunt. „Dann helfen Sie mir mal!“

Es war eine Freude, dem alten Herren zuzuhören. Nachdem er fertig angezogen war, machte er sich an seinem Rollator auf den Weg zum Frühstück. Beate schaute auf die Uhr. So lange hatte sie gebraucht? Es war schon 6:45 Uhr, sie hatte noch eine Dreiviertelstunde, um 7 Bewohner fertig zu machen. „Schaffe ich!“, dachte sie sich.

Die nächste Bewohnerin war bettlägerig, sie bekam ihr Frühstück im Zimmer angereicht. Sie konnte sprechen, aber ansonsten gelang ihr nichts mehr ohne Unterstützung. Selbst die Hand an den Mund zu führen, war ihr nicht mehr möglich. Während Beate sie im Bett wusch und anzog, versuchte sie eine Unterhaltung in Gang zu bringen, doch die alte Dame war an diesem Morgen nicht gut gelaunt.

„Die ganze Nacht wurde ich nicht umgelagert, DIE GANZE NACHT! Können Sie sich das vorstellen? Dieses junge Biest, das nachts immer kommt, ist so faul, dass es stinkt! Ich habe geklingelt und geklingelt. Sie hat einfach die Klingel abgestellt und nicht reagiert! Und meine Seite tat so weh! Ich bin bestimmt wund!“

„Ich schaue mir das mal an, Frau Trettin!“, sagte Beate. „Die Kollegin hatte sicher viel Arbeit. Wissen Sie, sie ist nachts alleine für 36 Bewohner zuständig.“ Mit der Nachtwache hätte kaum einer gerne tauschen wollen.

„Ist das meine Schuld, dass die hier keine Leute einstellen?“, erwiderte die Seniorin empört und ihre Augen blitzten lebendig und voller Energie. „Was kann ich denn dafür, dass hier alle nur von A nach B rennen?“

„Natürlich nichts, Frau Trettin! Da haben Sie völlig recht!“ Als Beate sich die wunde, nässende Stelle anguckte, erschrak sie sehr. Das musste dringend versorgt werden. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und versprach, nach dem Frühstück in Ruhe danach zu sehen. Damit konnte sie die alte Dame etwas beruhigen.

„Sie sind sehr nett. Dass Sie sich das überhaupt gleich angeschaut haben, junge Dame, das spricht für Sie. Die Meisten versprechen immer nur was und halten es dann nicht!“

Als Beate zum dritten Zimmer aufbrach, war es bereits 7:10 Uhr. Sie verspürte leichten Stress, sie wollte doch ihre Kollegin nicht gleich am ersten Tag enttäuschen. Diese war, wie sie aus den Augenwinkeln beim über den Flur hasten sehen konnte, schon fast fertig mit ihren 9 Bewohnern. Kurz machte sie sich Vorwürfe, weil sie das Bedürfnis empfand, sich zu beeilen. Sie hatte sich doch vorgenommen, sich unter keinen Umständen unter Druck setzen zu lassen. Es konnte ihr schließlich keiner zum Vorwurf machen, wenn sie ordentlich und sauber arbeitete und sich etwas mit den alten Menschen unterhielt. Bisher war das auch immer in Ordnung gewesen. Sie war auch etwas sauer auf ihre Kollegin. Am ersten Tag hätte die doch mal zwischendurch fragen können, ob alles in Ordnung war. Aber wahrscheinlich hatte sie keine Zeit, dachte Beate.

Die nächsten beiden Bewohner schaffte sie schnell. Doch dann kam sie zu Frau Mittrach. Sie war in Tränen aufgelöst. „Sehen Sie hier, in meinem Zimmer, da war eben ein Mann. Der hat gesagt, ich soll schnell die Butter einkaufen und sie ihm bringen. Bitte helfen Sie mir, ich muss sofort nach Hause!“

Die Dame war stark dement. Sie war schon öfters weggelaufen, um ihre Wohnung aufzusuchen. Leider gab es diese Wohnung gar nicht mehr. In letzter Zeit fantasierte sie stark. Oft äußerte sie auch den Wunsch, nicht mehr leben zu wollen. „Hallelujah, ich will sterben!“, sagte sie dann. Ihre Familie war groß, sie hatte drei Kinder und sieben Enkel, doch deren Interesse war sehr gering. Sie waren froh, wenn das Heim alles erledigte.

„Beruhigen Sie sich doch bitte, Frau Mittrach! Hier ist niemand! Sie haben das bestimmt geträumt!“, versuchte Beate die Dame zu beruhigen.

„Ich weiß doch, was ich gesehen habe! Halten Sie mich für verrückt?“, entgegnete Frau Mittrach empört.

„Natürlich nicht. Ich glaube, Sie sollten jetzt erst einmal aufstehen und ganz in Ruhe frühstücken. Dann sieht alles schon wieder ganz anders aus!“

„Ich werde jetzt NICHT zum Frühstück gehen. Ich muss doch die Butter kaufen! Der Mann wird sehr böse sonst!“ Frau Mittrach weinte jetzt hemmungslos.

„Ich werde Ihnen nach dem Frühstück helfen!“, versprach Beate. „Wir schauen, ob wir in den Supermarkt gehen können!“

„Ich gehe jetzt sofort los! Keine Widerrede. Ich entscheide alleine, was ich tue!“, mit diesen Worten stand die Dame entschlossen auf und begann, wahllos Dinge in ihre Handtasche zu schmeißen…eine Creme, zwei Waschlappen, Feuchttücher und ein Stück Brot.

Beate wusste nicht, was nun zu tun war. Sie hastete über den Flur. „Frau Mittrach will wieder weglaufen!“, sagte sie zu Gabi.

„Du bist erst bei FRAU MITTRACH? Oh Gott. Wie lahm bist du eigentlich? In 5 Minuten müssen alle am Tisch sitzen! Los jetzt, gib ihr Diazepam und schließ sie ein, bis sie sich beruhigt hat! Und dann weiter, hopp hopp. Wenn der Drache kommt, sind wir am Arsch!“

„Beruhigungsmittel? Einsperren? Das kann ich doch nicht machen!“

„Was willst du denn sonst tun, du Mutter Teresa? Ach, mach doch was du willst! DU kannst dich dann mit dem Drachen auseinandersetzen. Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!“, zischte Gabi und hastete davon.

Beate ging zum Zimmer zurück. Sie würde ganz sicher keinen alten, wehrlosen Menschen ruhigstellen und einsperren. „Die Chefin wird das verstehen!“, dachte sie bei sich. „Was ist daran so schlimm, wenn ein paar Senioren erst später frühstücken? Diese Gabi ist echt sowas von emphathiebefreit! Bevor ich so werde, wechsle ich den Beruf!“

In diesem Moment hörte sie eine Stimme. „Was verdammt ist hier los? Wieso fehlen so viele beim Frühstück?“, donnerte der Drache.

„Fragen Sie das die Neue! Die arbeitet nicht mit! Wenn das ihr erster Tag wäre, könnte ich es noch verstehen! Aber die ist ja schon ZWEI WOCHEN mitgelaufen! Eigentlich müsste sie mittlerweile aus dem FF wissen, was sie zu tun hat. Aber sie trödelt nur herum!“

Dass Gabi sich so unkollegial verhielt, wunderte Beate nicht. Am liebsten hätte sie sich heulend in eine Ecke gesetzt und erst einmal eine Whatsapp an Mel geschrieben. Doch dazu blieb keine Zeit, denn der Drache stand schon vor ihr und schnaubte:

„Weswegen halten Sie den ganzen Betrieb auf? Sind Sie zu blöd zum arbeiten?“

„Frau Mittrach…..“

„Interessiert mich nicht! Wir hatten ein Gespräch! 10 Minuten pro Bewohner, das hatte ich Ihnen erläutert!“

„Aber in dieser Situation….lassen Sie mich erklären…sie wollte weglaufen…“, stammelte Beate, völlig aufgelöst.

„Hier gibt es JEDEN TAG besondere Situationen! Sie können sich daran nicht aufhalten! Hier zählt Schnelligkeit! Alle sollen zusammen frühstücken. Jetzt müssen die WEGEN IHNEN warten! Was ist nun? Sind Sie bereit, hier mitzuarbeiten? Oder sollen wir die Probezeit gleich beenden, hier und jetzt?“

Beate wollte so viel erwidern. Dass sie nur hatte helfen wollen. Dass es ihr erster Tag war und man ja wohl etwas mehr Verständnis aufbringen konnte als Gabi und was das denn überhaupt hier für Arbeitsmethoden wären. Sie wollte der Chefin in die Augen sehen und bestimmt erklären, dass einsperren Freiheitsberaubung sei und sie den Betriebsrat einschalten würde. Und diese bescheuerten 10 Minuten pro Bewohner? Sie hatte gedacht, das sei nur eine ungefähre Richtlinie.

Sie dachte an die Zeitarbeit. Die miese Bezahlung. An ihre kleine Tochter, mit der sie alleine lebte, seit der Vater sie für eine andere sitzen lassen hatte – und für die sie nun durch diese neue Stelle endlich wieder mehr Zeit haben würde. Die Kleine hatte sich so gefreut.

„Ich schaffe das nicht! Wir schaffen das nicht! Ich brauche diese Stelle!“, dachte Beate verzweifelt. Alles in ihr wollte auf der Stelle kündigen, diesen Wahnsinn beenden, noch bevor er richtig anfing.

„Wo sind Sie mit ihren Gedanken? LOS jetzt! Ich sage es nicht nochmal!“ brüllte der Drache.

Ohne ein weiteres Wort holte Beate das Beruhigungsmittel und gab die Tropfen in eine Tasse Tee. Als sie der alten Dame die dampfende Tasse reichte und ihr sagte, dass sie nach dieser Tasse losgehen könne, fühlte sie, dass sie so etwas nun oft erleben würde. Etwas zerbrach in ihr.

Und als sie die Tür von außen verschloss, liefen ihr Tränen das Gesicht hinunter.

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